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Entwicklung der Tarifbindung

Die Tarifbindung im Einzelhandel stabilisiert sich weiter. Das geht aus der jährlich erscheinenden Veröffentlichung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervor. Demnach lag die Anzahl der Einzelhandelsbeschäftigten bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber mit Branchen- oder Haustarifvertrag im Jahr 2021 bei 28 Prozent. Nachdem im Jahr 2020 sogar ein leichter Zuwachs bei der Tarifbindung in der Branche um ein Prozent zu verzeichnen war, stabilisiert sich der Branchenwert im Zweijahresvergleich bei 28 Prozent.

Betrachtet man die Entwicklung der Tarifbindung innerhalb der letzten zehn Jahre, so ist festzustellen, dass die unmittelbare Tarifbindung im Einzelhandel – wie auch in der Gesamtwirtschaft – leicht rückläufig war. Die Stabilisierung stellt mithin eine Trendumkehr dar. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich diese Trendumkehr bei der Tarifbindung der Beschäftigten im Einzelhandel über die nächsten Jahre fortsetzen wird. Ein möglicher Grund für diese Entwicklung könnte insbesondere der zunehmende Fachkräftemangel in der Branche sein. Fest steht aber, dass vor allem der verringerte Gestaltungsspielraum für Tarifvertragsparteien aufgrund einer immer weiter zunehmenden gesetzlichen Regulierung in den letzten zehn Jahren mit Blick auf die Tarifbindung extrem kontraproduktiv war. Das zeigen die Zahlen eindeutig. Im Einzelhandel kommt erschwerend hinzu, dass ein teilweise veraltetes Tarifwerk die oft stark digital getriebenen, neuen Marktteilnehmer von einer Tarifbindung eher abhält. So konnte insbesondere die längst überfällige Modernisierung der Entgeltstruktur trotz intensiver Bemühungen des HDE mit der Gewerkschaft ver.di bisher nicht vereinbart werden. Auch ist eine Anpassung der überholten tariflichen Zuschlagsregelungen für Spätarbeit bereits ab 18:30 Uhr aufgrund liberalisierter Ladenöffnungszeiten längst überfällig.  

 

 

Tarifbindung aktuell

 

In der Gesamtwirtschaft waren 2021 bundesweit 52 Prozent (Vorjahr: 51 Prozent) der Arbeitnehmer in einem tarifgebundenen Unternehmen beschäftigt.



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Die rückläufige unmittelbare Tarifbindung der Beschäftigten im Einzelhandel lässt im Übrigen nicht den Schluss zu, dass die Branchentarifverträge tatsächlich nur für eine Minderheit der Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel Anwendung finden. Denn auch viele der nicht tarifgebundenen Unternehmen orientieren sich an den Flächentarifverträgen und übernehmen diese ganz oder teilweise (bspw. hinsichtlich der Vergütung) durch eine entsprechende Vereinbarung im Arbeitsvertrag. Nach Angaben des IAB fand der Branchentarifvertrag Einzelhandel auf diese Weise im Jahr 2021 bundesweit für weitere rund 40 Prozent der Beschäftigten Anwendung, die bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber tätig sind. Damit gelten die Branchen- und Haustarifverträge letztlich nach wie vor für mehr als zwei Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel, entweder unmittelbar durch Mitgliedschaft des Arbeitgebers in einem Tarifträgerverband bzw. durch Abschluss eines Firmentarifvertrages oder mittelbar durch eine entsprechende Vereinbarung im Arbeitsvertrag.

 

Mehr Tarifbindung durch Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) der Tarifverträge?

Sowohl in der Politik als auch von Seiten der Gewerkschaften wird zunehmend die rückläufige Tarifbindung beklagt. Um die Tarifbindung speziell im Einzelhandel wieder zu erhöhen, fordert ver.di die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheint (§ 5 Tarifvertragsgesetz). Das öffentliche Interesse liegt in der Regel vor, wenn der Tarifvertrag entweder in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine AVE verlangt. Von den rund 83.000 im Tarifregister des BMAS eingetragenen Tarifverträgen sind lediglich 210 (= 0,25 Prozent) für allgemeinverbindlich erklärt (Stand: 4. Quartal 2021). Die AVE stellt damit die absolute Ausnahme dar.

Der HDE lehnt eine AVE der Tarifverträge des Einzelhandels strikt ab. Ordnungspolitisch stellt die AVE einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie und eine Einschränkung der negativen Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz dar, der eine Ausnahme bleiben sollte und zudem besonderer Rechtfertigung bedarf. Zudem lässt sich über eine AVE die Tarifbindung in einer Branche nicht erhöhen, weil dadurch gerade nicht die Akzeptanz der Tarifverträge gestärkt wird, sondern lediglich eine staatlich angeordnete Erstreckung auf die nicht tarifgebundenen Unternehmen der Branche erfolgt. Eine AVE kann für die Tarifbindung sogar kontraproduktiv sein, weil die tariflichen Ansprüche dadurch auch für nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer gelten. Eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft wird dann möglicherweise uninteressant.

Aber auch inhaltlich ist eine AVE der reformbedürftigen Tarifverträge des Einzelhandels sinnlos. Die Tarifbindung steigt nur dann wieder, wenn den Unternehmen zeitgemäße und praktikable Tarifverträge zur Verfügung stehen, die ihren praktischen Anforderungen gerecht werden (Akzeptanz statt „Zwangserstreckung“).  Die von der Arbeitgeberseite seit Jahren geforderte Modernisierung der Tarifverträge im Einzelhandel ist daher unabdingbar, um Unternehmen wieder für Tarifverträge zu gewinnen. Dies aber wird scheitern, wenn lediglich staatlicher Zwang über eine AVE ausgeübt wird.