Hypermoderne Altmodischkeit

Ein Beitrag von Gregor Gysi, Bundestagsabgeordneter für Die Linke (Foto: Deutscher Bundestag)

Gregor Gysi grossIch muss gestehen, ich gehe nicht besonders gern einkaufen. Aber wenn ich vor Weihnachten die Geschenke für meine Familie besorge, dann freue ich mich über sachkundige Beratung und eine Atmosphäre, die man wohl heutzutage als Einkaufserlebnis bezeichnet. Dabei muss es für mich gar nicht unbedingt die fast schon aristokratische Gelassenheit sein, mit der Rowan Atkinson im Film „Tatsächlich Liebe“ das Geschenk verpackt, auch wenn ich diese Szene immer wieder gern anschaue. Aber diese kurze innere Beziehung, die sich zwischen Kundin oder Kunde und Verkäuferin oder Verkäufer in einem Ladengeschäft welcher Art auch immer aufbaut, ist durch keinen Klick im Onlinekatalog von Amazon und Co. zu ersetzen.

Mir ist bewusst, dass das vielleicht altmodisch klingt und für nicht wenige Menschen wohl auch ist. Aber wir sollten überlegen, ob nicht Mittel und Wege offen gehalten werden müssten, um ein Stück dessen, was ja auch die 100jährige Geschichte des Handelsverbands Deutschland ausmacht, bewusst zu bewahren in diesen für den Handel durchaus schwierigen Zeiten. Gerade weil das, was sich auf die stolze Tradition der Fugger gründet und letztlich die Entwicklung des modernen Kapitalismus überhaupt erst ermöglichte, weil sich der Mehrwert der kapitalistisch organisierten Produktion nur dadurch realisieren lässt, nun vor gewaltigen Umbrüchen steht, die mit der Digitalisierung verbunden sind. Der Marx-Satz aus dem Kapital, „die Waren gehen nicht allein zum Markte“, stimmt zwar nach wie vor, aber die Wege der Waren zum Markt verändern sich gravierend.

Dass und wie diese Herausforderung vom Handel bewältigt wird, entscheidet sowohl über Gestaltung und Bezahlung von Arbeitsplätzen als auch über seine durchaus soziale Funktion bei der Gestaltung unserer Innenstädte und im Grundsatz auch über den Anteil des Handels bei der Lösung der Klimafrage. Natürlich hat eine Donquichotterie gegen die Digitalisierung wenig Aussicht auf Erfolg. Aber schon wenn es gelänge, wenigstens vergleichbare Rahmenbedingungen herzustellen, indem Digitalgiganten gleichermaßen Steuern und Löhne zahlen müssen wie jene Händler, die die Fahne vor Ort hochhalten, gewönne man einiges.

Die „Geiz ist geil“-Mentalität ist zwar inzwischen aus der Werbung verschwunden, prägt aber nach wie vor das Herangehen sowohl in der Gesellschaft als auch in Wirtschaft und Handel. Doch mit Niedriglöhnen, prekären Arbeitsverhältnissen, zu geringen öffentlichen Investitionen, Rentenkürzungen, gnadenlosem Preisdruck und horrenden Mieten sägen Gesellschaft und Wirtschaft an dem Ast, auf dem wir alle sitzen. Denn wer Menschen zu wenig Geld in der Tasche lässt, schließt diese als Konsumenten aus und treibt die Billig-Spirale mit allen Konsequenzen an.

100 Jahre Handelsverband sind ein stolzes Jubiläum. Im Gründungsjahr des Verbandes hatte der letzte deutsche Kaiser noch nicht einmal ein Jahr abgedankt. Große Handelshäuser haben das gesellschaftliche Bild Deutschlands über lange Jahre geprägt. Deshalb sollte eine Tradition des Handels nie in Vergessenheit geraten, das Bild des ehrbaren Kaufmanns, der heutzutage selbstverständlich auch eine ehrbare Kauffrau ist. Dies kann, so altmodisch wie es heute klingt, dann schon wieder hypermodern wirken und eine prägendes Alleinstellungsmerkmal sein in einer Zeit, da Käuferinnen und Käufer im Internet in Sachen Verbraucherschutz, Garantieleistungen oder auch Zuverlässigkeit allzu häufig im Regen stehen. Dabei sollte man durchaus darauf vertrauen, dass Kundinnen und Kunden dies zu schätzen wissen. Oder es wieder lernen, wie dies die Ostdeutschen Jahre nach der Wende bei Kathi, Rotkäppchen oder Fit taten.

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