Digitalisierung ist die Lösung, nicht das Problem

Ein Beitrag von Sebastian Czaja, FDP-Fraktionsvorsitzender im Abgeordnetenhaus von Berlin

CZAJA grossVerwaiste Innenstädte, überall Smartphone-Zombies und Job-Killer Künstliche Intelligenz – in Deutschland lesen sich Schlagzeilen zur Digitalisierung des Öfteren wie dystopische Science-Fiction-Fantasien. Ja, die digitale Transformation wird vieles verändern, in einigen Branchen sogar drastisch. Das bekommt der stationäre Einzelhandel seit einigen Jahren zu spüren. Doch die Lösung liegt gerade im Wandel, denn wer mutig digitale Lösungen anpackt, muss den Strukturwandel nicht fürchten.

In der EU liegt Deutschland auf Platz 12 bei der Digitalisierung des Handels (siehe Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI)) – kein schlechter Platz, aber auch kein Grund, die Sektkorken knallen zu lassen. Das zeigt vor allem: Die Bereitschaft digitale Angebote anzunehmen, ist da. Gerade in Berlin dürfte sie besonders hoch liegen. Gleichzeitig gibt es ein Bedürfnis nach mehr Nachhaltigkeit und regionalen Angeboten. Wie sich beides kombinieren lässt, zeigen bspw. die „Marktschwärmer“ in Köln: Anwohner und Besucher können online ihre regionalen Lieblingsprodukte vorbestellen und an einem zentralen Ort abholen – und dabei gleich die Hersteller und andere Anwohner kennenlernen.

Ich glaube, der Eindruck, dass viele Berliner nur online bestellen wollen, trügt. Im Gegenteil: Viele Menschen wünschen sich mehr Begegnungen im „echten“ Leben. Lokale Geschäfte können als Orte der Begegnung funktionieren und Kunden etwas bieten, was sie online nicht bekommen. Die Entscheidung, einen Händler vor Ort aufzusuchen, findet allerdings oft online statt, bei der Suche via Google und Co. Was viele Gastronomen vormachen, wird auch für Händler immer wichtiger: Ob Instagram, Facebook oder die klassische Webseite - eine Online-Präsenz, die sich an die eigenen Kunden richtet, ist mehr als nur Kür.

Welche konkreten (digitalen) Lösungen Einzelhändler und Unternehmen einsetzen können, um ihre Kunden besser anzusprechen, wissen sie im Zweifel besser als die Politik. Es liegt mir daher fern, so zu tun, als gäbe es die eine Maßnahme, mit der allen geholfen ist. Vielmehr braucht es Innovation und kluge Ideen aus der Wirtschaft selbst. Aber gerade weil der Strukturwandel im Zuge der Digitalisierung so rasant voran schreitet, darf die Politik nicht nur zuschauen. Das Wirtschafts- und Digitalisierungsministerium in Nordrhein-Westfalen veröffentlichte 2019 den „Digitalisierungsatlas Handel NRW“, um sich einen Überblick zu verschaffen und Händlern wie kommunalen Entscheidungsträgern Best-Practice-Beispiele aufzuzeigen. Daneben gibt es konkrete Beratungs- und Vernetzungsangebote für Händler und Unternehmen durch die Kommunen. In Berlin vermisst man ähnliche Initiativen der grünen Wirtschaftssenatorin. Dabei hat die Start-Up-Hauptstadt Berlin enormes Potential: Wenn wir es schaffen, Händler mit Gründern, die tolle Ideen für neue digitale Plattformen haben, zu vernetzen, kann Berlin zum Vorreiter werden!

Neben der Vernetzung von digitalen Unternehmern und Händlern muss der Senat die notwendige Infrastruktur schaffen. Es ist ein Armutszeugnis, dass wir im Jahr 2020 noch darüber reden müssen: Der Breitbandausbau darf nicht länger verschleppt werden! Vielmehr müssen wir schon jetzt die Weichen für Technologien der Zukunft stellen. Dazu gehört der Ausbau der neuen 5G-Infrastruktur sowie des sogenannten LoRaWAN (Long Range Wide Area Network). Letzteres ist derzeit noch ein Spezialthema für Technikbegeisterte. Doch bald wird das kostengünstige und energiesparende Funknetz die Basis für das „Internet der Dinge“ sein. Über das Netzwerk können schnell und sicher große Datenmengen erfasst und dann weiterverarbeitet werden. So könnte man mithilfe von Sensoren bspw. Füllstände von Mülltonnen erfassen und über eine Smartphone-App auslesen. Bewegt sich der Hund aus einem definierten Bereich oder wird die Tür nachts geöffnet, gäbe es eine Push-Nachricht aufs Smartphone. Die Anwendungen sind vielfältig und bieten gerade auch Händlern vor Ort die Möglichkeit, mehr über die Bedürfnisse ihrer Kunden zu erfahren.

Seien wir also mutig! Zum Mut gehört auch, althergebrachte Traditionen zu hinterfragen. Die Sonntagsruhe ist nicht mehr zeitgemäß und stellt einen entscheidenden Nachteil stationärer Händler gegenüber dem Online-Handel dar. Jeder Unternehmer weiß: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen sie sich den Bedürfnissen ihrer Kunden anpassen. Dazu gehören beim Einzelhandel auch die Öffnungszeiten. Jedes Geschäft sollte selbst entscheiden können, wie sie ihre Öffnungszeiten gestalten. Dabei muss klar sein: Wenn Arbeitnehmer den Sonntag mit der Familie verbringen wollen, darf auf sie kein Druck ausgeübt werden, sonntags zu arbeiten – hier muss es ganz klare gesetzliche Schutzbestimmungen geben. Wer allerdings von höheren Löhnen, die für Sonntagsarbeit gezahlt werden müssen, profitieren möchte, sollte dies auch dürfen – in anderen Branchen ist das längst möglich.

Es gibt viel zu tun. Einzelhändler und Unternehmer stehen vor der Aufgabe, ihre Geschäfte um digitale Lösungen zu erweitern und den Kunden etwas zu bieten, was der Online-Handel so nicht kann. Diese Aufgabe können wir Politiker ihnen nicht abnehmen. Wir können es ihnen aber einfacher machen: Indem wir gesetzliche und bürokratische Hürden abbauen, Infrastruktur aufbauen und sie mit Beratungs- und Vernetzungsangeboten unterstützen. Packen wir’s an!

 
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