Kreativität und Ko-Kreation

Ein Beitrag von Andreas Reiter, Zukunftsforscher (www.ztb-zukunft.com)

 andreas reiter grossStädte sind im Umbruch. So wie im 19. Jahrhundert die Industrialisierung den öffentlichen Raum neu ordnete – hier die Fabriken, dort die Schlafsiedlungen -, bricht die Netz-Ökonomie das Gewebe unserer Städte erneut auf. Die digitale 24-Stunden-Ökonomie mit ihrer asynchronen Taktung perforiert die Raum- und Zeitstrukturen der Stadt. Eine neue „Placeless Economy“ entsteht, die das Display der Stadt, ihre Benutzer-Oberfläche verändert, wobei die Entwicklung nicht disruptiv erfolgt, sondern allmählich (und daher voraussehbar ist). Digitale Plattform-Ökonomien lassen in vielen Branchen (Handel, Dienstleistung, Gewerbe usf.) stationäre Formate erodieren bzw. zwingen diese zu einer Neuausrichtung.

Der stationäre Handel, der bislang wichtigste Frequenz-Bringer von Innenstädten, ist mit am stärksten im digitalen Umbruch – angetrieben von einem agilen und smarten Konsumenten (on demand, 24-Stunden-Convenience etc.). Die Folgen sind bekannt: die Konzentration nimmt zu, Verkaufsflächen werden kleiner, Verkauf und Showroom werden in Zukunft immer öfter entkoppelt (in Flagshipstores wird das Marken-Erlebnis gesucht, gekauft wird online), hybride Nutzungs-Formate entstehen, Gastronomie und andere Freizeit-Dienstleister dringen verstärkt in die Innenstädte vor.

Die Erzählung ist wichtiger als das Produkt

Der stationäre Handel stirbt? Die Innenstädte bluten aus? Aber nein, diese Befürchtungen teile ich nicht. Inmitten des Digital Battle Grounds sind sowohl Handel wie auch innerstädtische Orte unverzichtbare emotionale Anker, weil kulturell tief in der DNA der mitteleuropäischen Stadt und ihrer Nutzer eingewoben. In der virtuellen Ökonomie ändern sich zwar die Shopping-Formate - Shopping selbst ist und bleibt als Kulturtechnik eine anthropologische Konstante und wird auch in Zukunft starke physische Orte der Präsentation brauchen. Die Handelslandschaft aber wird sich weiter fragmentieren: Flagship-Stores und Mono-Marken, kleine innerstädtische Luxustempel und Premium-Meilen, Concept-Stores und Diskonter.

Die nächsten Jahre werden freilich eine große Kreativität freisetzen (müssen) in der Entwicklung neuer (stationärer) Einkaufs-Formate (verschmolzen mit digitalen Kanälen) sowie neuer attraktiver Erlebnis-Orte in der Innenstadt.

Zum einen sind die Händler in ihrer Kreativität und ihrem Selbstverständnis herausgefordert. Der Retailer von morgen ist ein Storyteller, der den Kunden bedeutungsvolle Erzählungen bietet (die dieser im Netz nicht in der multisensuellen Tiefe bekommt). Aus dem Point of Sale wird der „Point of Emotion“. Shopping (nicht der Versorgungskauf) wird künftig verstanden als Experience, bei der nicht die Ware, sondern das Marken-Erlebnis im Mittelpunkt steht, das emotionale Setting. Die Werte der Digital Natives haben sich klar verschoben: vom Haben zum Erleben, vom Besitz zur (teilbaren) Erfahrung. Das bedeutet: die Marke muss sich als „Produkt“ zurücknehmen und als „Erfahrung“ umcodiert in die Lebenswelten der Konsumenten rücken (wie man solche Lebenswelten und diverse Marken sinnlich kuratiert, zeigt seit Jahren erfolgreich z.B. Eataly, auch das neue H&M-Konzept, der Garten in Berlin-Mitte, ist eine erfrischende Neuinterpretation).

Zum andern braucht eine pulsierende Innenstadt ein konzertiertes strategisches Vorgehen städtischer Akteure. Ich meine hier nicht die Aufenthaltsqualität (da ist in vielen deutschen Städten noch erheblicher Handlungsbedarf), diese ist Voraussetzung für eine attraktive Innenstadt, ebenso wie intelligente Mobilitätskonzepte. Es geht künftig um ein Co-Development städtischer Räume, um eine Entwicklung bedeutungsvoller städtischer Orte, die Identifikation ermöglichen und Kommunikation, die zum gemeinsamen Staunen verführen. Eine virtuelle Stadt-Gesellschaft braucht physische Orte, die großes Theater verkörpern, die begehbare Tattoos sind.

Zentrale Stadtakteure – Immobilienwirtschaft, Handel, Gastronomie etc. – sind gefordert, gemeinsam attraktive Multi-Use-Formate und ungewöhnliche Ankerorte zu entwickeln. Neue multifunktionale Orte (ob Stadt-Bibliotheken oder hoch frequentierte Mobilitäts-Knotenpunkte) werden zu sozialen Magneten – Shopping ist dabei ein Pfeiler, aber eben nicht der einzige). Die Zukunft gehört dem Social Retailing, bei dem Shopping-Formate soziale Erlebnisse gestalten und Orte des Staunens hervorbringen, die eine gemeinsame Erfahrung ermöglichen (beispielhaft die Markthal in Rotterdam).

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