Innenstädte müssen gut erreichbar bleiben

Artikel von Michael Reink, Bereichsleiter Stndort & Verkehr beim HDE

Zurzeit lesen wir viel über die Frage, wie Innenstädte zukunftssicher gemacht werden können. Das Thema „Multifunktionalität“ steht dabei ganz oben auf der Agenda. Auch die Innenstadtstrategie des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, an der ich mitarbeiten darf, ist stark von diesem Gedanken geprägt. Und ja, die Stärkung der Multifunktionalität ist bestimmt geeignet, um die Innenstädte resilienter zu machen, da die Schwäche einer innerstädtischen Funktion aufgrund der Anzahl anderer Funktionen ausgeglichen werden kann. Dies gilt auch, obwohl nicht alle innerstädtischen Funktionen über die gleiche „Heilungswirkung“ verfügen (Sogwirkung, Wertschöpfung, Imagefaktor und so weiter).

Dabei dürfen wir jedoch einige grundlegende Parameter einer gut funktionierenden Innenstadt nicht außer Acht lassen. Hierzu gehört in jedem Fall die Erreichbarkeit der Innenstädte. Wenn diese nicht optimal gestaltet ist, muss die Anziehungskraft der Innenstadt durch ihre funktionale Ausstattung sowie bauliche Attraktivität umso höher sein. Die Erreichbarkeit ist daher das Nadelöhr einer funktionierenden Innenstadt.

DIE „AUTOGERECHTE“ STADT WIRFT LANGE SCHATTEN

Die Frage einer guten Erreichbarkeit konnte man vor zehn oder zwanzig Jahren noch eindeutig beantworten. Insbesondere in der Stadt der Moderne mit dem Leitbild der autogerechten Stadt, wurde die Entwicklung anderer Verkehrsträger in den Hintergrund gedrängt und entsprechend Infrastrukturen für den ruhenden und fließenden Verkehr geschaffen. Diese wirken städtebaulich und bei der Verkehrsmittelwahl bis heute nach.

KLIMAGERECHTE LEITBILDER & MOBILITÄTSWANDEL

Unsere Leitbilder haben sich aber geändert, so dass wir heute an der klimagerechten Stadt sowie an die Entwicklung unserer Innenstädte als „Third Place“ arbeiten. Daher fließen in den Innenstädten zwei sich bestenfalls ergänzende Strömungen zusammen: der Stadtumbau mit mehr „Grün und Blau“ sowie der Mobilitätswandel. Beide Leitbilder müssen jedoch auf der beschriebenen städtebaulichen und funktionalen Grundlage aufbauen. Dabei sind die Voraussetzungen in den Städten sehr unterschiedlich. Was alle Städte jedoch eint, ist die Tatsache, dass wir es hier mit einer massiven Veränderung des bestehenden Systems zu tun haben. Wir befinden uns daher am Anfang eines insbesondere für die Kommunen langfristigen, teurer, kontroversen und aufwändigen Prozesses. Dabei formieren sich schon heute die unterschiedlichen Lager von Befürwortern dogmatischer Lösungen. Die einen verteufeln z.B. den motorisierten Individualverkehr, die anderen können sich eine Zukunft ohne das Automobil nicht vorstellen. Die gute Erreichbarkeit der Innenstädte wird sich jedoch nicht allein an der Zukunft des motorisierten Individualverkehrs orientieren können. Allein die Stadtgröße beziehungsweise die Beschaffenheit des Einzugsgebietes wird die Kommunen zu sehr individuellen Lösungen zwingen, da zum Beispiel die Bevölkerung in ländlichen Räumen viel weniger vom ÖPNV-Angebot profitieren wird, als die Bevölkerung in den hochverdichteten Gebieten. Menschen werden demnach in vielen Landesteilen auf Dauer auf das Auto angewiesen sein – zumindest für Teilstrecken. Dabei wird die Dekarbonisierung des motorisierten Individualverkehrs nur die Schadstoffbelastung in den Innenstädten reduzieren. Der Flächenbedarf bemisst sich jedoch immer noch nach den Kubikmetern „Blech“.

FLÄCHENBEDARF ERFORDERT ENTZERRUNG DER VERKEHRE

Dieser Flächenbedarf entsteht aber nicht nur über den Kunden-, sondern auch über den Lieferverkehr mit stetig steigenden Transportvolumina. Diese steigende Verkehrsdichte trifft insbesondere in den Innenstädten auf ein final ausgebautes Verkehrsnetz, dessen Rückbau (Abkehr von der autogerechten Stadt) öfter diskutiert wird, als deren Ertüchtigung. Wir werden demnach auch über die Entzerrung der Verkehre, sprich über die Verlagerung bestimmter Verkehre in die Nachtstunden nachdenken müssen. So werden etwa in den Niederlanden seit Jahren viele Lieferverkehre (auch des Einzelhandels) erfolgreich und verträglich in die Nachstunden verlagert. Hierzu werden die Fahrzeuge und das Lieferpersonal speziell für die „leise Logistik“ zertifiziert. Hinzu kommen in der jüngeren Vergangenheit und unmittelbaren Zukunft Veränderungen im straßengebundenen Verkehr zum Beispiel über Car-Sharing-Modelle, sinnfreie E-Scooter oder auch das autonome Fahren. Gerade letzteres hat die Kraft, das Verbraucherverhalten zu verändern und der Verkehrsplanung neue Fragen zu stellen: Wozu benötigen wir Parkhäuser? Wie hoch ist der Flächenbedarf für den ruhenden Verkehr? Wieso gibt es massenhaft Fahrzeuge als mobile Litfaßsäulen? Wie hoch ist die Dichte von autonomen Kleinsttransportern? Wie groß darf ein autonomes Fahrzeug sein, damit es auf dem Bürgersteig oder Radweg fahren darf?

Verlagerungspotenziale bestehen jedoch auch in der schienengebundenen urbanen Logistik. Jedoch stehen wir hier nahezu am Beginn der Erkenntnisgewinnung. Auch die Verlagerung der letzten Meile auf das Lastenrad gibt uns neue Möglichkeiten. Die Potenziale dürfen aber auch nicht überschätzt werden, wobei das Fahrrad garantiert ein wichtiger Verkehrsträger im Kunden- Lieferverkehr der Zukunft sein wird.

FUNKTIONSVERLUSTE BEIM STADTUMBAU VERMEIDEN

Alles in allem: Wir ändern ein System mit vielen unterschiedlichen Parametern.

Dabei ist zu beachten, dass während dieses Prozesses die funktionale Stärke der Innenstädte nicht leidet. Es besteht die Gefahr, dass zu große Funktionsverluste hingenommen werden müssen und die Funktionen mit hoher Sogwirkung, wie der Einzelhandel oder die Gastronomie, nicht mehr bestehen. Der Stadtumbau und der Mobilitätswandel sind „Operation am offenen Herz“, an deren Ende der Patient Innenstadt überleben muss. Sonst nutzen uns die Umbauprozesse nichts. Stadtumbau und der Mobilitätswandel sind nur Zweck, aber nicht die eigentliche Zielstellungen.

Das Ziel sind zukunftsfähige, resiliente, städtebaulich und funktionell funktionierende Innenstädte, die ich mir ohne den Einzelhandel mit seiner hohen täglichen Anziehungskraft nicht vorstellen kann.

(zuerst erschienen in „Stadt und Gemeinde digital„, die Zeitschrift des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Ausgabe 03/2022)

Seite drucken