Tarifliche Mehrarbeitszuschläge im Einzelhandel – Gutachten Prof. Dr. Martin Franzen

In der Anlage finden Sie eine gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Martin Franzen über die Auswirkungen des Urteils des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 05.12.2024 – 8 AZR 370/20 und des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.12.2024 – 1 BvR 1109/21 auf die in Tarifverträgen von HDE-Mitgliedsverbänden geregelten Mehrarbeitszuschläge, unter besonderer Berücksichtigung des Manteltarifvertrags des Handelsverbands Niedersachsen/Bremen (MTV HNB). Die Befunde im Gutachten von Prof. Franzen unterstützen die bisherige branchenspezifische Argumentation in dieser Rechtsfrage.

Hier eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse aus dem Gutachten von Prof. Dr. Martin Franzen aus Sicht der Branche:

  1. Das BAG hat im Urteil vom 05.12.2024 (Az. 8 AZR 370/20) den Aspekt der Kompensation erhöhter Arbeitsbelastung grundsätzlich als sachlichen Grund anerkannt, der eine Ungleichbehandlung Teilzeitbeschäftigter rechtfertigen kann, sofern dieser Grund dem Tarifvertrag, gegebenenfalls durch Auslegung entnommen werden kann. Die im MTV Einzelhandel Niedersachsen vorgesehenen Mehrarbeitszuschläge wollen aus Gründen des Arbeitsschutzes hohe Arbeitsbelastungen durch hohe Arbeitszeiten kompensieren und wären damit laut dem Ergebnis des Gutachtens nach Maßgabe des BAG-Urteils vom 05.12.2024 gerechtfertigt. Denn dieser sachliche Grund werde von den Tarifvertragsparteien auch mit verhältnismäßigen Mitteln umgesetzt – unter anderem deshalb, weil die Schwellenwerte für die Auslösung der Mehrarbeitszuschläge an die wöchentliche Arbeitszeit anknüpfen und grundsätzlich auch Freizeitausgleich möglich ist, wie dies der EuGH erwogen hatte.

    Nur sofern ein Gericht - entgegen der vorstehend dargestellten Auffassung - eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Falle des MTV Einzelhandel Niedersachsen ablehnt, würde sich überhaupt die Frage nach den Rechtsfolgen stellen. Sind, wie in der vorliegenden Konstellation, aber gleich mehrere Rechtsfolgen zur Bewältigung des Gleichheitsverstoßes denkbar, scheidet laut Gutachten eine Teilunwirksamkeit der tariflichen Regelung, nur bezogen auf den engen unmittelbar ungleichbehandelnden Teil, aus. Es wäre dann vielmehr eine Gesamtnichtigkeit dieser tariflichen Zuschlagsregelung anzunehmen. Dies würde es den Tarifvertragsparteien ermöglichen, unter Beachtung des eingesetzten tariflichen Dotierungsrahmens eine sachgerechte Neuregelung zu treffen.

  2. Das BVerfG beschränkt die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG mit seinem Beschluss vom 11.12.2024 (Az. 1 BvR 1109/21) im Kernbereich der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) nunmehr auf eine „Willkürkontrolle“. Diese neuen Maßstäbe aus dem BVerfG-Beschluss vom 11.12.2024, der zeitlich nach dem BAG-Urteil vom 05.12.2024 (s.o.) ergangen ist und darin daher noch keine Berücksichtigung finden konnte, lassen sich dabei laut Gutachten auch auf die im Einzelhandel vorliegende Konstellation der tariflichen Mehrarbeitszuschläge anwenden, weil es sich hierbei - aufgrund der verbliebenen Gestaltungsvielfalt in den Mitgliedsstaaten - um einen unionsrechtlich nicht vollständig determinierten Rechtsbereich handelt. Nach den Maßstäben des BVerfG („Willkürkontrolle“) kommen als sachliche Gründe für eine Differenzierung nicht nur solche in Betracht, die im Tarifvertrag ihren Niederschlag gefunden haben, sondern jeder vernünftige, sich aus der Natur der Sache ergebende oder sachlich einleuchtende Grund. Dazu gehören bei den Mehrarbeitszuschlägen die Kompensation hoher Arbeitsbelastung sowie die Verhinderung der Schlechterstellung Vollzeitbeschäftigter.  

Update: Das BAG (5. Senat) wird in Kürze zu verschiedenen Tarifverträgen im Einzelhandel in dieser Frage entscheiden. Es bleibt abzuwarten, ob und ggf. inwieweit sich das BAG dabei dieser sehr überzeugend dargelegten Auffassung von Prof. Martin Franzen anschließen wird. Der 5. Senat des BAG hat angekündigt, am 26. November 2025 zu den Mehrarbeitszuschlägen nach dem Manteltarifvertrag Einzelhandel in Niedersachsen zu entscheiden (5 AZR 155/22, Link). Dabei handelt es sich um die erste höchstrichterliche Entscheidung zu einem Tarifvertrag im Einzelhandel dazu. Eine weitere Entscheidung dann zum Manteltarifvertrag Einzelhandel Thüringen ist vom BAG bereits für den 28. April 2025 (5 AZR 96/25, Link) terminiert. Zum Manteltarifvertrag Einzelhandel Brandenburg wird noch im Laufe des nächsten Jahres eine höchstrichterliche Entscheidung erwartet.

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