Standpunkt: Leise Nachtlogistik als Antwort auf den Verkehrsinfarkt
3.137.176.238Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik beim Handelsverband Deutschland (HDE):
Zurzeit lesen und hören wir viel über die Dekarbonisierung des Verkehrs. Insbesondere wird in der Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs eine große Chance zur Rettung des Klimas gesehen. Auch wenn der Strom derzeit noch nicht überwiegend „grün“ produziert wird und die Rechnung daher noch nicht voll aufgeht, wird die Unterstützung von Innovationen beim Mobilitätswandel grundsätzlich zielführend sein. Doch was bedeutet die Dekarbonisierung für das Straßenwegenetz in unseren hochverdichteten Innenstädten, wenn der motorisierte Individualverkehr wie bisher zu den immer gleichen Zeiten sich gegenseitig die Straßen verstopft? Dann ist die Luft zwar sauberer, der Frust dürfte der gleiche sein.
Daher sollten die Möglichkeiten der Dekarbonisierung noch weiter gedacht werden als bisher. Die Elektrifizierung des motorisierten Individualverkehrs bedeutet nämlich auch, dass die Verkehre gleichzeitig leiser werden, so dass die Chance zur zeitlichen Verlagerung einiger Verkehre in die Abend- und Nachtstunden besteht. Unser Nachbarland Niederlande macht es uns seit einigen Jahren vor. Leise E-Lkws und E-Transporter beliefern hier mit wachsendem Erfolg den Handel im Rahmen der leisen Nachtlogistik.
Dazu müssen die Fahrzeuge einem zertifizierten „leisen“ Standard entsprechen und die Fahrer*innen besonders geschult sein. Denn auch eine zugeschlagene Fahrzeugtür oder laute Telefonate mit dem Handy könnten die Nachtruhe genauso stören, wie nervig piepende Signale beim Rückwärtsfahren. Denn dafür gibt es mit dem niederländischen „PIEK-Zertifikat“ gute passende Lösungen. Dass der TÜV-Nord bereits seit Jahren die Einhaltung des PIEK-Standards überprüft und zertifiziert, sei nur am Rande erwähnt.
Nächtliche Lieferverkehre führen zu Entlastungen tagsüber
Die Rechnung ist denkbar einfach: Die Lieferfahrzeuge, die über die leise Nachtlogistik die Waren an den Handel ausliefern, bringen eine Entlastung zu den üblichen Spitzenzeiten. Dies bedeutet automatisch eine Verbesserung der motorisierten Pendlerverkehre, wobei hiermit nicht das vornehmliche Ziel einer verbesserten Erreichbarkeit mit dem Auto ausgesprochen werden soll. Vielmehr müssen bereits heute Lösungen dafür erarbeitet werden, wie wir das wachsende Transportvolumen auf dem bestehenden Straßennetz unterbringen können.
Die Verlagerung auf die Bahn wird insbesondere auf der sogenannten letzten Meile selten gelingen, auch wenn erste Versuche mit der S- und U-Bahn zu unterstützen sind. Das Lastenrad ist eine gute Alternative, jedoch im Transportvolumen eingeschränkt. Zudem geht die Bilanz beim möglichen Transportvolumen pro Fahrer*in nicht auf. Deshalb wird der Transport mit dem Lastenfahrrad eine sinnvolle Lösung nur für spezifische Anwendungen bleiben. Das Problem ansteigender Transportvolumina bleibt.
Dabei ist in den hochverdichteten Innenstädten das Straßennetz bereits heute maximal ausgebaut. Durch die Konkurrenzen mit anderen Verkehrsträgern wie dem Fahrrad sowie dem berechtigten Wunsch einer stärkeren klimagerechten Durchgrünung der Innenstädte ist zudem davon auszugehen, dass in Zukunft das Wegenetz für den motorisierten Individualverkehr sogar sukzessive abgebaut wird. Dieser Prozess ist auch in Hinblick auf eine Verbesserung der städtebaulichen Attraktivität sowie einer Absenkung der innerstädtischen Temperaturen gut zu moderieren, aber unumgänglich. Die Devise lautet also: mehr Transporte im Lieferverkehr und im motorisierten Individualverkehr bei einer gleichzeitig schleichenden Umwidmung von Verkehrsflächen und somit Reduzierung von Straßeninfrastruktur. Die Rechnung geht so nicht auf, Nachtlogistik könnte hier eine Lösung sein.
Lernen von den niederländischen Nachbarn
Aber wieso gibt es in Deutschland bisher kein eigenes Zertifikat, um diese einfache Lösung zum Standard zu machen und sinnvollerweise Lieferverkehre in die Abend- und Nachtstunden zu verlagern? Für den vorherigen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) war dies kein Projekt mit oberster Priorität. Zwar gab es Gespräche auf den unterschiedlichen Ebenen des Ministeriums sowie Unterstützung der Fachpolitiker anderer Bundestagsfraktionen. Aber die Interessenlage galt bis dato nicht diesem innovativen Ansatz.
Dabei ist zu bedenken, dass der Immissionsschutz und besonders der Lärm das Potenzial besitzen, durchaus kontroverse Debatten herbeizuführen. Dabei hatten Forschungen des Fraunhofer Institut IML in Dortmund in Zusammenarbeit mit Rewe durchaus zum Ergebnis, dass die leise Nachlogistik auch unter den bestehenden deutschlandweiten Richtlinien bereits heute umgesetzt werden kann. Den besorgten Anwohnern*innen konnten die Forscher*innen nur sagen, dass sie mit den Forschungen in der Nachtzeit bereits fertig sind, ohne dass die Anwohner*innen dies bemerkt hatten. Wie gesagt, es liegen bereits lange Erfahrungswerte aus den Niederlanden vor.
Mit der Benennung des neuen Verkehrsministers Volker Wissing (FDP) sollte der Durchbruch der leisen Nachtlogistik gelingen. Die neue Bundesregierung möchte die Innovationskraft des Standortes Deutschland beleben. Die FDP sagt dazu: „Wir Freie Demokraten wollen für politische Entscheidungen das Innovationsprinzip ergänzend zum Vorsorgeprinzip. Bei der Folgenabschätzung soll nicht nur auf mögliche Risiken einer Maßnahme geschaut werden. Genauso intensiv muss ermittelt werden, welche Chancen bei Unterlassung verloren gehen. Damit sichern wir die Zukunft.“ Dieser Maxime folgend freuen wir uns auf die kommenden Gespräche mit dem Bundesverkehrsministerium in der Hoffnung, rasch eine wirkungsvolle Lösung gegen den drohenden Verkehrsinfarkt umsetzen zu können.
>> zuerst erschienen im Tagesspiegel Background vom 15. Dezember 2021