Innenstädte vor, während und nach Corona
- In welcher Situation befinden sich derzeit die Innenstädte und der Einzelhandel?
Der Einzelhandel hat derzeit hohe Umsatzverluste zu verzeichnen. Die Gesamtsumme beläuft sich in Deutschland auf bisher 30 Mrd. Euro. Auch wenn sich viele Einzelhändler rasch ein weiteres Standbein im Online-Handel aufgebaut haben, haben diese Aktivitäten keine unternehmenserhaltenden Umsätze generieren können. Zudem haben die Händler von Seiten des Staates finanzielle Unterstützungen durch Zuschüsse oder günstige Kredite erhalten. Letztere sind jedoch zurückzuzahlen, so dass es zukünftig zusätzliche Belastungen für die Händler bedeutet. Gleiches gilt für die dankenswerterweise ermöglichten Stundungen von einem Teil der Vermieter. Auch diese Mietzahlungen müssen demnächst zusätzlich zu den normalen monatlichen Mieten aufgebracht werden. Das führt zu einem Risiko, welches nach den staatlichen verordneten Geschäftsschließungen auf die Händler zukommt: Infolge der historisch schlechten Konsumlaune haben die Händler Kosten von „100% plus X“ zu tragen, bei weit unterdurchschnittlichen Einnahmen. Das wird zu einer zweiten Insolvenzwelle führen – in allen Größenklassen und über das gesamte Bundesgebiet verteilt, wenn hier keine zusätzlichen staatlichen Maßnahmen greifen. Diese Händler werden uns allen fehlen, da die Diversität der Versorgungsstruktur leidet und kein Ersatz für diese Händler zu finden sein wird.
- Wird es eine Zeit für den stationären Handel, wie sie jene vor Corona war, wieder einmal geben?
Leider ist in der Folge mit einer deutlichen Zunahme von Leerständen zu rechnen. Diese Befürchtung gab es schon durch die Umsatzverschiebungen in den Online-Handel. Jedoch hat die Corona-Krise diese Situation deutlich verschärft. Daher sollte das in Deutschland sehr bewährte System der Städtebaufördermittel nochmals deutlich aufgestockt werden. Durch diese finanziellen Hilfen habe die Kommunen die Möglichkeit, zusätzliche Gelder vom Bund und dem jeweiligen Bundesland z.B. für ihre Innenstadtentwicklung einzusetzen. Dabei löst ein Euro dieser staatlichen Gelder durchschnittlich acht Euro an öffentlichen und privaten Folgeinvestitionen aus. Diese Maßnahme halten wir für dringend geboten, um die drohenden Verwerfungen in den Innenstädten abzumildern. Aber eins muss uns allen klar sein: Die Innenstädte werden nachhaltig unter der Corona-Krise leiden.
- Was wird sich nach Corona im Handel und in der Dienstleistung alles verändern?
Das Ende der Krise wird vielfältige Veränderungen mit sich bringen. Es ist damit zu rechnen, dass der Staat und die Kommunen über Jahre wesentlich weniger Geld zur Verfügung haben, als dies jetzt der Fall ist. Dadurch werden viele Investitionen auch zur Verschönerung oder besseren Erreichbarkeit von Innenstädten verschoben werden. Für Stadtfeste werden die Etats ebenfalls gekürzt werden und die Möglichkeiten der vielen insbesondere lokalen Sponsoren werden stark eingeschränkt bis gar nicht mehr vorhanden sein. Darauf muss sich der Handel und müssen sich die Mitbürger einstellen.
Zudem wird es starke Veränderungen in der Besitzerstruktur der Innenstädte geben. Es ist davon auszugehen, dass viele kleine Immobilienbesitzer die Krise wesentlich schlechter durchstehen werden, als die großen institutionellen Eigentümer. Dass muss nicht zum Vorteil auch des Handels bzw. der lokalen Unternehmen in den Innenstädten sein, da sich die Machtverhältnisse zwischen dem Mieter und Vermieter weiter verschieben werden. Daher erarbeitet urbanicom in Zusammenarbeit mit dem Handelsverband Deutschland sowie den kommunalen Spitzenverbänden an einen milliardenschweren Innenstadtstabilisierungsfonds, damit die Innenstädte in ihrer Diversität und Attraktivität erhalten bleiben.
- Was ist mit der Digitalisierung? Hat der stationäre Handel noch Entwicklungs- und Erfolgspotential?
Wie wir bereits jetzt sehen, müssen wir mit einem veränderten Konsumverhalten der Bürger nach der Krise rechnen. Viele Mitbürger aber auch Händler haben sich in der Krise erstmalig ernsthaft mit dem Vertriebskanal Online-Handel auseinandergesetzt. Auch wenn die schlechte Konsumlaune auch beim Online-Handel teilweise zu Umsatzeinbußen geführt hat, waren die durch Hamsterkäufe verursachten temporären Engpässe z.B. bei Toilettenpaper für viele der Anlass, sich diese Produkt über andere Kanäle zu besorgen. Das gleiche gilt z.B. auch für den Bezug von Masken. Not macht nicht nur erfinderisch, sie öffnet auch Perspektiven. Da der stationäre Handel mit seinen attraktiven Läden jedoch an dieser Öffnung von Perspektiven nicht beteiligt sein konnte, hat der Online-Handel schlussendlich profitiert.
Für den stationären Handel heißt das, dass dieser Vertriebskanal noch stärker in den Blickpunkt rücken muss. Jedoch muss der Handel damit auch Geld verdienen können. Wenn man jedoch bedenkt, dass der Händler z.B. für die großen Plattformen sowohl das Risiko des Wareneinkaufes trägt, die Ware lagert, die Ware verpackt und die Ware schließlich an den Lieferanten übergibt, sind dies Kosten und Dienstleistungen, die der Händler trägt und nicht der Online-Plattform-Anbieter. Zudem muss der Händler eine Provision an den Plattform-Anbieter zahlen. Daher ist regelmäßig damit zu rechnen, dass die Verkaufs-Marge über den Online-Handel dünner ausfallen wird, als beim Verkauf über den Ladentisch.
- Stichwort Ortsentwicklung: Welche Rolle werden unsere Innenstädte und Ortskerne in Zukunft spielen?
Innenstädten sind ein System, dass nur in der Zusammenarbeit der vielen Funktionen seine ganze Wirkung entfalten kann. Hierbei gibt es vielfältige Kopplungseffekte zwischen den unterschiedlichen Funktionen, wobei das Zusammenwirken von Handel und Gastronomie eine besondere Rolle einnimmt. Der Handel ist und bleibt dabei jedoch die Innenstadtfunktion Nummer eins und ist der Hauptanlass für einen Besuch in der Innenstadt.
Dabei haben wir die Schließung von Geschäften in Deutschlands z.B. als Folge von Überflutungen der Innenstädte bereits häufiger erlebt. Auch wenn die Innenstädte heute glücklicherweise keine baulichen Mängel zu verzeichnen haben, wissen wir, dass die Bevölkerung zunächst ein wenig „fremdeln“ kann. Verschärfend kommt heute jedoch hinzu, dass niemand das Ende der Corona-Krise sicher voraussagen kann. Die unbekannte Dauer der bewusst unattraktiven Innenstädten als Folge einer absichtlichen Reduzierung von Anreizen (z.B. Verkaufsverbot für großflächige Händler und die Gastronomie) ist ein schweres Los. Daher unterstützt urbanicom die Einrichtung eines Innenstadt-Kulturfonds.
Insgesamt werden wir besondere Anstrengungen unternehmen müssen, die Innenstädte mit ihrer besonderen Attraktivität den Bürgern wieder ein Stück näher zu bringen. Dazu kann dieser Fonds einen Beitrag leisten, da mit dem Fonds Kleinkunst auf den Straßen oder temporäre Kunst im öffentlichen Raum finanziert werden soll, um zusätzliche Anreize zu schaffen. Gleichzeitig hilft es den Künstlern, die von der Krise auch im erheblichen Maß betroffen sind.
Insgesamt bin ich für die Innenstädte aber zuversichtlich, da die Bürger*innen mit ihren Innenstädten stark verwachsen sind und sie sich mit ihnen identifizieren. Wir müssen es aber schaffen, dass die Innenstädte Orte bleiben, mit denen man sich auch gern identifizieren möchte. Leider hatten einige Städte bereits vor der Krise derart starke funktionale und (kultur-)bauliche Schwächen, dass den Bürgern*innen diese Identifikation zunehmend schwer viel.
- Wie können lebendige und attraktive Ortszentren erhalten werden?
Durch den Wegfall der Alleinstellung „Warenverfügbarkeit“ für den stationären Handel, reicht die Produktvielfalt der Innenstädte nicht mehr aus, um die Menschen für einen Innenstadtbesuch zu begeistern. Vielmehr möchten die Menschen einen Ort besuchen, der eine gute Freizeitgestaltung verspricht. Daher funktionieren Innenstädte jetzt und in Zukunft nur, wenn es ein symbiotisches Miteinander von Handel, Gastronomie, öffentlicher Verwaltung, Dienstleistungen, Wohnen etc. gibt. Zudem spielt die Attraktivität von Gebäuden und öffentlichen Plätzen eine zunehmend bedeutende Rolle, wodurch der Begriff der Baukultur immer wichtiger wird.
- Haben Klein- und vor allem Familienbetriebe im Handels- und Dienstleistungsbereich noch eine Überlebenschance?
Der Anteil der privat geführten Handelsunternehmen ohne großes Filialnetz ist zwar immer noch sehr bedeutend, in den letzten Jahren aber auch die am stärksten schrumpfende Vertriebsform. Dabei sind es die privat geführten Handelsunternehmen, die den Unterschied zwischen den Städten ausmachen und das besondere Einkaufserlebnis bringen. Die Filialisten haben dennoch eine starke Berechtigung, da diese durch Ihre Bekanntheit und die hohen Werbeetats Anreize setzen und für viele Kunden auch vertrauensbildend sind. Das Abschrumpfen des nicht-filialisierten Fachhandels beweist aber, dass es den Unternehmen zunehmend schwer fällt in punkto Bekanntheit, Einkaufspolitik, Marketing, Ladengestaltung etc. mitzuhalten. Hinzu kommt, das es in etlichen dieser Unternehmen Diskussionen über die Nachfolge gibt, so dass wir allein dadurch jedes Jahr Klein- und Familienbetriebe verlieren.
Hinter allem steckt aber eine Wahrheit: Der Kunde hat es im Griff. Der Geschäftsbesatz in den Innenstädten wird sich entsprechend der Kundenpräferenzen entwickeln. Nicht zu Unrecht heißt es: „Support your lokal dealer“. Allein die steigenden Anteile des Online-Handel lassen aber befürchten, dass die Kunden diesen ganz persönlichen Steuerungsmechanismus nicht wirklich nutzen.