Umgang mit dem § 11. Abs. 3 BauNVO
3.16.203.27Dies gilt auch und gerade für den Lebensmitteleinzelhandel. Diesem Strukturwandel ist auch bei der Anwendung der einschlägigen planungsrechtlichen Vorschriften Rechnung zu tragen. Ebenso müssen die Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen bei der planerischen und genehmigungsbehördlichen Beurteilung von Ansiedlungsvorhaben des Lebensmitteleinzelhandels Beachtung finden, um eine bestmögliche Versorgung zu erreichen.
Grundlage für die planungsrechtliche Beurteilung großflächiger Vorhaben des Lebensmitteleinzelhandels auf mehr als 800 m2 Verkaufsfläche ist nach wie vor der § 11 Abs. 3 BauNVO. Wenn sich solche Vorhaben
- „nach Art, Lage und Umfang auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken können“ dürfen sie nach dieser Vorschrift außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten zugelassen werden. Auswirkungen im o.g. Sinne (§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3) sind insbesondere
- schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des § 3 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes sowie
- Auswirkungen:
- auf die infrastrukturelle Ausstattung,
- auf den Verkehr,
- auf die Versorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich der in § 11 Abs. 3 Satz 1 BauNVO bezeichneten Betriebe,
- auf die Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden,
- auf das Orts- und Landschaftsbild und
- auf den Naturhaushalt.
Zur Vereinfachung der Beurteilung, ob solche Auswirkungen vorliegen, stellt § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO den Genehmigungsbehörden eine Regelvermutung“ zur Verfügung: Demnach sind solche Negativauswirkungen „in der Regel anzunehmen, wenn das Vorhaben die Geschossfläche von 1.200 m² überschreitet“.
Diese Regelvermutung kann aber nach § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO widerlegt werden u.a. wenn Anhaltspunkte dafür bestehen,
- dass Auswirkungen bereits bei weniger als 1.200 m2 Geschossfläche vorliegen oder
- bei mehr als 1.200 m2 Geschossfläche nicht vorliegen.
Dabei sind in Bezug auf die in Satz 2 des § 11 Abs. 3 BauNVO bezeichneten Auswirkungen insbesondere
- die Gliederung und
- Größe der Gemeinde und ihrer Ortsteile,
- die Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und
- das Warenangebot des Betriebs zu berücksichtigen.
Die im Jahr 2002 von der Bundesregierung eingesetzte Arbeitsgruppe zum Strukturwandel im Lebensmitteleinzelhandel spricht sich in ihrem Bericht vom 30. April 2002 für folgende Vorgehensweise aus:
Demnach können von großflächigen Lebensmitteleinzelhandelsbetrieben in größeren Gemeinden und Ortsteilen auch oberhalb der Regelvermutungsgrenze von 1.200 m2 aufgrund einer Einzelfallprüfung dann keine negativen Auswirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung und den Verkehr ausgehen, wenn „der Non-Food-Anteil weniger als 10 Prozent der Verkaufsfläche beträgt und der Standort verbrauchernah und hinsichtlich des induzierten Verkehrsaufkommens verträglich sowie städtebaulich integriert ist“. Die dazu erforderlichen Prüfungen sollten, sofern keine Besonderheiten vorliegen, im Rahmen einer „typisierenden Betrachtungsweise“ erfolgen.
Diesen Ansatz hat das BVerwG in seinem Beschluss vom 22. April 2004 (4 B 29.04) und vor allem in seinem Urteil vom 24. November 2005 (4 C 10.04) ausdrücklich gebilligt und abschließend festgestellt, dass die von der Arbeitsgruppe genannten Erfahrungswerte bei der vorzunehmenden Einzelfallprüfung im Sinne einer typisierenden Betrachtungsweise berücksichtigt werden können und dass sich auf der Grundlage dieser Arbeitsgruppenüberlegungen unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles sachgerechte Standortentscheidungen treffen lassen, ohne dass es von Rechts wegen einer weiteren Erhöhung beim Merkmal der Großflächigkeit bedürfte.
Obwohl dieser Ansatz in verschiedenen Einzelhandelserlassen der Bundesländer zur Anwendung empfohlen worden ist, wurde er in Praxis mancher Baugenehmigungsbehörden und Bauleitplaner bei der Prüfung von Anhaltspunkten für die Widerlegung der in § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO ausgesprochenen Regelvermutung nachteiliger Auswirkungen nicht herangezogen.
Der Anteil dieser Entscheidungen liegt bei Lebensmitteldiscountern bei knapp 46 Prozent und bei Lebensmittelvollsortimentern bei gut 58 Prozent der in der DIFU-Studie Befragten (DIFU Seite 83 bis 84). Diesen Bauaufsichtsbehörden erscheint diese zweistufige Prüfung wohl als zu kompliziert und angesichts der relativ abstrakten Kriterien auch zu aufwändig und zu riskant. Große Unsicherheiten gibt es insbesondere bei dem Kriterium des städtebaulich integrierten Standortes, und zwar vor allem dann, wenn das anstehende Vorhaben außerhalb klar abgrenzbarer Zentren realisiert werden soll.
Diesem Kriterium kommt für die Widerlegung der Regelvermutung bei großflächigen Lebensmittelmärkten aber eine Schlüsselrolle zu. Gelingt es, dieses Kriterium näher zu konkretisieren und damit insbesondere für die Baugenehmigungsbehörden handbarer zu machen, hat der o.g. Ansatz einer typisierenden Betrachtungsweise eine Chance, bei großflächigen Lebensmittelmärkten (mit 800 bis 1.500 m2, durchschnittlich 1.200 m2 Verkaufsfläche) in städtebaulich integrierten Lagen die Regelvermutung negativer Auswirkungen zu widerlegen und dadurch deren Genehmigung auch außerhalb von Kern- oder Sondergebieten zu ermöglichen.
Sprich: Bei großflächigen Lebensmittelmarkt-Vorhaben (800 – 1.500 m2, durchschnittlich rund 1.200 m2 Verkaufsfläche) ist eine praktikable Handhabung des § 11 Abs. 3 BauNVO durch die Baugenehmigungsbehörden möglich, wenn das jeweilige Vorhaben an einem städtebaulich integrierten Standort, also in einem zentralen Versorgungsbereich oder ausnahmsweise auch in einer integrierten Nahversorgungslage außerhalb der Zentren realisiert werden soll und diese integrierten Standortbereiche sich ohne Weiteres aus dem gemeindlichen Einzelhandels- und Zentrenkonzept entnehmen lassen.
Fehlen solche kommunalen Standortkonzepte, ist auf die tatsächlich vorhandenen zentralen Versorgungsbereiche abzustellen. Die Widerlegung der Regelvermutung ist auch ohne Einzelhandels- und Zentrenkonzept möglich, wenn der Vorhabenstandort eindeutig städtebaulich integriert ist. In Grenzfällen wird die Widerlegung aber sehr erleichtert, wenn sich die Standortintegration aus einem solchen Konzept ableiten lässt.
„Von vielen Kommunen werden die Vermutungsregelung und die Möglichkeit, diese in atypischen Fallkonstellationen zu widerlegen (§ 11 Absatz 3 Sätze 3 und 4 BauNVO) tendenziell als kompliziert bewertet“.
Bericht der Bundesregierung zur städtebaulichen Wirkungsweise des § 11 Absatz 3 der Baunutzungsverordnung (Drucksache 18/1922), Berlin, Juni 2014; erarbeitet vom Deutsches Institut für Urbanistik (Difu): „Studie zur städtebaulichen Wirkungsweise des § 11 Absatz 3 Baunutzungsverordnung“, Berlin, Mai 2014, Seiten 8 und 84 | Link zur Studie:
Den Städten und Gemeinden wird empfohlen, unter Einbeziehung insbesondere der Einzelhandelsverbände und der IHKs, diese flexiblere Handhabung des § 11 Abs. 3 BauNVO bei großflächigen Lebensmittelmärkten an städtebaulich integrierten Standorten durch die Aufstellung und rechtzeitige Fortschreibung ihrer lokalen Einzelhandels- und Zentrenkonzepte zu unterstützen, in denen diese integrierten Standortbereiche ausgewiesen sind.
Den Bauaufsichtsbehörden wird empfohlen, von dieser Möglichkeit der flexibleren Handhabung der Vermutungsregelung des § 11 Abs. 3 BauNVO bei Ansiedlungs- und Erweiterungsvorhaben für großflächige Lebensmittelmärkte (800 – 1.500 m2, durchschnittlich rund 1.200 m2 Verkaufsfläche) an städtebaulich integrierten Standorten Gebrauch zu machen, indem bei dieser Fallkonstellation die Regelvermutung negativer Auswirkungen als wiederlegt angesehen wird. Damit ist der Weg frei für die Prüfung der einzelnen Auswirkungen des konkret anstehenden Vorhabens.
Der Lebensmitteleinzelhandel ist aufgerufen, seine Standortwahl ausschließlich auf die städtebaulich integrierten Standortbereiche zu konzentrieren, und zwar vornehmlich auf die zentralen Versorgungsbereiche.
Der Handelsverband Deutschland betont, dass der § 11 Abs. 3 BauNVO eine wichtige Bedeutung sowohl für den Schutz und die Erhaltung zentraler Versorgungsbereiche, als auch für den Schutz der verbrauchernahen Versorgung und auch die Förderung der Innenentwicklung besitzt.
Der Handelsverband Deutschland spricht sich für die Beibehaltung der bisherigen Schwellenwerte (800 qm Verkaufsfläche als Schwelle zur Großflächigkeit und 1.200 qm Geschossfläche bei der Vermutungsregelung) und ausdrücklich gegen eine Anhebung aus.