Wie aktuelle Jahreszahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigen, waren im Jahr 2023 noch 23 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber mit Branchen- oder Haustarifvertrag angestellt. Im Vorjahresvergleich ist der Wert um drei Prozent gesunken. In der Gesamtwirtschaft waren im Jahr 2023 laut IAB-Erhebung 50 Prozent der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Unternehmen tätig, im Vorjahr waren es 51 Prozent. Die Tarifbindung ist branchenübergreifend damit seit Jahren leicht rückläufig.
Die rückläufige unmittelbare Tarifbindung der Beschäftigten im Einzelhandel lässt aber keinesfalls den Schluss zu, dass die Branchentarifverträge nur noch für eine Minderheit der Beschäftigungsverhältnisse der Branche Anwendung finden. Vielmehr ist die Anzahl der Einzelhandelsunternehmen, die sich auf rein vertraglicher Basis bei der Vergütung ihrer Beschäftigten an den Flächentarifverträgen orientieren, im Vorjahresvergleich nochmals angewachsen. Auf diese Weise gelten die Branchen- und Haustarifverträge de facto aktuell sogar für mehr als zwei Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse im Einzelhandel..
Gestaltungsspielräume für mehr Tarifbindung stärken,
Empfehlungen der Mindestlohnkommission respektieren
Ursache für die rückläufige Tarifbindung über alle Branchen hinweg ist vor allem der verringerte Gestaltungsspielraum für Tarifvertragsparteien aufgrund einer immer weiter zunehmenden gesetzlichen Regulierung. Dies gilt vor allem für die rein politisch motivierte, sprunghafte Mindestlohnanhebung auf zwölf Euro im Jahr 2022, die gänzlich ohne Beteiligung der unabhängigen Mindestlohnkommission durchgesetzt wurde. Mit Blick auf die Tarifbindung war dies fatal und darf sich so nicht mehr wiederholen. Nach Ansicht des HDE hat sich die Arbeit der unabhängigen Mindestlohnkommission bewährt, deren Empfehlungen sind zu respektieren. Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Beschäftigten beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung (§ 9 Abs. 2 MiLoG).
Es muss Aufgabe und das Selbstverständnis der Sozialpartner sein, die Tarifverträge immer wieder aktuellen Herausforderungen anzupassen und dabei - frei von staatlicher Einflussnahme - einen für beide Seiten tragfähigen Kompromiss für eine ganze Branche auszuhandeln. Mehr staatliche Einflussnahme ist hierzu nicht hilfreich, sondern in höchstem Maße kontraproduktiv.
Wie kann die Steigerung der Tarifbindung zukünftig gelingen?
Der HDE hat bereits in der Vergangenheit immer wieder konstruktive Vorschläge zur Steigerung der Tarifbindung gemacht. Wichtig sind hierzu aus Sicht des Verbandes vor allem zusätzliche Öffnungsklauseln in bestehenden Gesetzen, die neue Gestaltungsspielräume eröffnen, um die Passgenauigkeit und damit Attraktivität von Tarifverträgen zu steigern. Denn die Tarifverträge werden aufgrund der Digitalisierung und KI in Zukunft mit noch mehr Unternehmensindividualität bei den Geschäftsmodellen umgehen müssen. Das Prinzip „one size fits all“ wird den Interessen vieler Unternehmen oft nicht mehr hinreichend gerecht. Um die betriebliche Passgenauigkeit zu erhöhen, bedarf es daher auch mehr Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen selbst, um individuelle Lösungen auf Basis des Tarifvertrages zu ermöglichen.
Häufig werden insbesondere auch mittelständische Unternehmen von der Komplexität von jahrzehntealten Flächentarifverträgen abgeschreckt. Sinnvoll wäre daher eine Modularität von Tarifverträgen („Baukastenprinzip“), bei der sich nicht tarifgebundene Arbeitgeber für einzelne Module, beispielsweise Entgelt, aus einem Tarifwerk entscheiden dürfen. Auch diese würde die Attraktivität von Tarifbindung steigern, denn so wird die Schwelle zur Tarifbindung abgebaut.
Eine Lockerung der gesetzlichen Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen lehnt der HDE mit Blick auf die verfassungsrechtlich garantierte negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) strikt ab. Ebenso strikt abzulehnen sind auch steuerliche oder sozialversicherungsrechtliche Privilegierung von Gewerkschaftsbeiträgen. Auch sind rechtmäßige Umstrukturierungen in Unternehmen als zwingende Reaktion auf aktuelle Marktentwicklungen legitim, um die Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze zu erhalten.
Mehr Tarifbindung durch Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) der Tarifverträge?
Sowohl in der Politik als auch von Seiten der Gewerkschaften wird zunehmend die rückläufige Tarifbindung beklagt. Um die Tarifbindung speziell im Einzelhandel wieder zu erhöhen, fordert ver.di die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die AVE im öffentlichen Interesse geboten erscheint (§ 5 Tarifvertragsgesetz). Das öffentliche Interesse liegt in der Regel vor, wenn der Tarifvertrag entweder in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine AVE verlangt. Von den aktuell rund 87.000 gültigen in das Tarifregister des BMAS eingetragenen Tarifverträgen in Deutschland sind lediglich 219 (also weniger als ein Prozent) für allgemeinverbindlich erklärt (Stand: 1. Januar 2024). Dies belegt, dass die AVE damit die absolute Ausnahme darstellt.
Der HDE lehnt eine AVE der Tarifverträge des Einzelhandels strikt ab. Ordnungspolitisch stellt die AVE einen massiven Eingriff in die Tarifautonomie und eine Einschränkung der negativen Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz dar, der eine Ausnahme bleiben sollte und zudem besonderer Rechtfertigung bedarf. Zudem lässt sich über eine AVE die Tarifbindung in einer Branche nicht erhöhen, weil dadurch gerade nicht die Akzeptanz der Tarifverträge gestärkt wird, sondern lediglich eine staatlich angeordnete Erstreckung auf die nicht tarifgebundenen Unternehmen der Branche erfolgt. Eine AVE kann für die Tarifbindung sogar kontraproduktiv sein, weil die tariflichen Ansprüche dadurch auch für nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer gelten. Eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft wird dann möglicherweise sogar uninteressant.